Kanadisches Recht – Kanada hat vieles im Überfluss. Und viel hat man zur Wahl. Doch in einem ist es besonders speziell: Ein Kulturstaat braucht ein Rechtssystem. Doch hier stellt Kanada ein Gemeng an Rechten zur Verfügung, dessen Vielfalt auch für das komplexe Gebilde Recht ungewöhnlich ist.

Im kanadischen Recht, bedingt durch seine Geschichte, ist das englische Recht noch sehr präsent. Ebenfalls bedingt durch seine Geschichte, ist auch französisches Recht in der großen und traditionsreichen Provinz Quebec zu spüren – ein französisches Recht, das noch auf die Zeiten vor den großen Gesetzbüchern Napoleons im 19. Jahrhundert zurückgeht.

Was aber ist heute?

Wie die Bundesrepublik Deutschland, ist auch Kanada eine Föderation, die sich zwischen 1867 und 1912 entwickelt hat. Das bedingt, dass es, wie in Deutschland, eine Bundes- und eine Provinzebene des Rechts gibt – manchmal hat man auch die Wahl zwischen Bundes- oder Provinzrecht. Hinzu kommen vielfach weitere, lokale Ebenen. Und dazu gibt es nicht nur das System der Ebenen, sondern auch noch zwei Rechtssysteme für das Zivilrecht: das sogenannte „common law“ in 9 Provinzen und das sogenannte „civil law“ in einer Provinz – mit Quebec aber eine der wichtigsten Provinzen und der Ursprung Kanadas. Und sie sind theoretisch grundverschieden.

„Common Law“ basiert auf einem Korpus an Recht, der sich durch Richtersprüche über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat. Der Richterspruch hatte dabei auch für andere, gleiche Fälle Bindungswirkung; deshalb war es im Vortrag vor dem Gericht stets wichtig, zu sagen, worin sich denn wohl der Fall unterschied, wollte man die Bindungswirkung umgehen. So unbekannt ist das auch unserem Rechtssystem nicht, gab es doch vor den Zivilgesetzbüchern das ähnlich gebildete „gemeine Recht“. In heutiger Rechtspraxis in Kanada ist eine Bindung nur für untere Gerichte an Entscheidungen höherer Gerichte derselben Jurisdiktion gegeben – die Gerichte selbst sind an ihre Vorentscheidungen nicht mehr gebunden. Das Common Law fußt nicht notwendig auf kanadischen Entscheidungen. Auch die Entscheidungen anderer Common Law Staaten, wie England, USA, Australien können herangezogen werden. Und Kanada hat nicht nur das englische Common Law geerbt, sondern auch das „law of equity“, erst gesetzt von den Beratern des Königs, später von den „Courts of Chancery“.

Auch heute noch wird gern als noch heute gültig ein Brief zitiert, der 1856 an die „Law Times“ zum Verhältnis des common law von England und dem von „Upper Canada“ ging:

„Die Rechte der beiden Länder sind fast identisch. Die Praxis oder Anwendung des Rechts ist in beiden Ländern gleich.“

Das sogenannte „Civil Law“ ist eine spätere Erfindung. Es basiert auf römischem und germanischem Recht und mündete in den Gedanken, das verbindliche Recht müsse von einem Gesetzgeber kommen, der am besten ein großes Gesetzbuch für einen Rechtsbereich (Zivilrecht, Handelsrecht) schafft, aus dem sich in einem geschlossenen System alle Entscheidungen ableiten lassen. So haben wir unser bürgerliches Gesetzbuch (BGB), und Quebec hat einen – zweisprachigen – Code Civil. Der ist jung, modern und gilt seit dem 1. Januar 1994. Er hat ein Zivilgesetz für „Lower Canada“ abgelöst, das aus dem Jahre 1866 galt – das ist nicht viel älter als unser BGB, in Geltung seit 1900. Streng genommen ist das kein französisches Recht mehr, sondern basiert nur auf dem kontinentaleuropäischen Code-System. Nur vorher galt das Recht der „Coutume de Paris“, mit 362 Artikeln – woran sich auch nichts änderte, als 1760 die Engländer den Streit mit dem Franzosen um Quebec gewannen. Das gilt für das klassische Zivilrecht. In Quebec gibt es kein „Handelsgesetzbuch“. Das mag daran liegen, dass dieser Code in Frankreich erst seit 1807, also zu napoleonischen Zeiten geschaffen wurde, es also keine Tradition damit in Quebec gab. Der „Coutume de Paris“ stammte aber ursprünglich schon von 1507 und wurde in Quebec vor dem Sieg der Engländer rezipiert. Im öffentlichen Recht wird bei den Regelungen auch in Quebec mehr im Stil des common law gearbeitet.

Natürlich gibt es auch im common law System Gesetze – reichhaltig. Aber die großen Kodifikationen, auch das Zivilgesetzbuch von Quebec sind weniger detailorientiert, sondern geben Leitlinien von größerer Abstraktion. Ähnliches kennen wir auch aus Deutschland: im BGB gilt einheitliches abstraktes Denken, das öffentliche Recht ist detailorientiert und mit nur wenigen Grundsätzen behaftet. Die gleichen Begriffe können in zwei Praxisgesetzen völlig verschieden verwendet werden. Der Zivilrechtler mag so etwas nicht.

In der Rechtspraxis ist der prinzipielle Denkunterschied zwischen common law und civil law in Europa deutlich zu spüren. Wer einen Vertrag innerhalb des common law Systems schreibt, wird bestrebt sein, den unübersichtlichen Bestand an maßgeblichen Gerichtsentscheidungen zu umgehen und im Vertrag selbst eine möglichst vollständige und geschlossene Regelung zu schaffen, in der man möglichst alles nachlesen kann – den Praxistest besteht das freilich oft nicht.

Dieselbe Aufgabe ist innerhalb einen Civil Law Rechtssystems einfacher, weil hinter den Worten eines Vertrages die Denkwelt und Systematik eines großen Gesetzbuches stehen, das nicht für den Vertrag abgeschrieben zu werden braucht. Tendenziell sind Civil Law Verträge deshalb kürzer als Common Law Verträge.

In Kanada sind die Rechtssysteme enger verwoben. Deshalb werden Verträge aus Montreal kaum anders geschrieben als solche aus Toronto. Das ist zumindest so, wenn sie in englischer Sprache geschrieben werden.

Das führt zu einem weiteren wesentlichen Faktor: der Sprache. Kanada ist offiziell eine zweisprachige Nation. Nach Section 16 der „Canadian Charter of Rights and Freedoms“ sind Englisch und Französisch, gleichberechtigt, die offiziellen Sprachen Kanadas. Einzelheiten sind im föderalen „Official Languages Act“ von 1969 geregelt, der zuletzt 2023 novelliert wurde.  Allerdings: nur eine Minderheit der Kanadier ist tatsächlich zweisprachig. Etwa 22 % der Kanadier haben Französisch als Muttersprache, zumeist in Quebec, und sehr viele davon sind mit dem Englischen nicht sehr gut vertraut. Diese Position einer Minderheit hat Schutzvorschriften hervorgerufen, die über das oben genannte Gesetz hinausgehen. Die wichtigste davon ist die „Charte de langue francaise“, ein Gesetz der Provinz Quebec, das zum August 1977 zurückreicht. Es legt fest, dass Französisch die einzige offizielle Sprache von Quebec ist und regelt zu diesem Zweck viele Dinge, die das tägliche Leben betreffen – etwa auch die Verpflichtung, dass der Name einer Firma zumindest auch in französischer Sprache gehalten werden müsse und viele Handlungsanleitungen für die Praxis. Das Gesetz ist öfters verändert worden und manchmal auch vom Supreme Court von Canada begrenzt worden. Es hat aber große Bedeutung.       

Die Sprache ist das Handwerkszeug der Juristen. Deshalb ist neben der unterschiedlichen Systeme, die theoretisch sprachneutral sind, auch die praktische Verwendung der jeweiligen Sprache, etwa in Verträgen, von Bedeutung. Verbraucher-Verträge müssen in französischer Sprache sein, ebenso allgemeine Geschäftsbedingungen. Tatsächlich ausgehandelte Verträge können auch andere Sprachen verwenden. Es hat sich aber eingebürgert, zur Vorsicht in vielen Verträgen, wo es nicht nötig wäre, eine Sprachklausel zu verwenden, die ungefähr so aussieht:

„The parties acknowledge that they have required that this Agreement and all documents relating hereto be drawn up in the English language.  Les parties déclarent avoir exigé que ce contrat et tous les documents qui s’y rapportent soient rédigés en anglais.”    

Die spezielle Ausprägung des kanadischen Föderalismus produziert aber noch einen anderen Unterschied. Während der in Deutschland zugelassene Anwalt in der ganzen Republik, ja zunehmend auch EU-weit praktizieren darf, sind solche Regelungen in Kanada Sache der Provinzen. Ob und wie man sich etwa außerhalb der Provinz, in der man zugelassen ist, niederlassen darf, ist Gegenstand komplizierter Regelungen. Die Folge, die weitgehend beklagt wird, ist dass die Vertrautheit mit dem Recht über die Provinzgrenze hinaus zumeist gering ist, besonders dann, wenn es mit einem Systemwechsel einher geht.

Deutschland hat ebenfalls das föderale Recht, das eine große Bedeutung hat, und das Recht der Bundesländer, das zumeist in den jeweiligen Sachgebieten ähnlich ist. Davor fürchtet sich ein deutscher Anwalt nicht. Natürlich wird auch in den kanadischen Provinzen nicht das Rad jeweils neu erfunden, aber bei den „Statutes“ scheinen die Unterschiede größer zu sein. Hinzu kommt, dass nahezu das ganze Zivilrecht, anders als in Deutschland, Provinzsache ist – so auch das für den Kaufmann wichtige Gesellschaftsrecht und, für deutsche Investoren wichtig, das Arbeitsrecht. Aber halt: zusätzlich gibt es auch ein föderales Gesellschaftsrecht und mancher Unterschied liegt im Detail. Föderal ist aber zum Beispiel das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes – Urheberrecht, Patentrecht oder dergleichen. Auch Kanadas Strafrecht ist föderal.

Neben den Provinzen, deren Spielraum groß genug ist, dass manche Kanada als „Staatenbund“ bezeichnen, gibt es auch noch die drei Territorien. Sie haben nicht den Status einer Provinz und sind Untergruppen der föderalen Verwaltung. Jedes Territorium hat seine lokale Gesetzgebung – die Liste der Gesetze der „Northwest Territories“ umfasst geschätzt etwa 200 Gesetze. Das allgemeine Zivilrecht ist vom common law geprägt. Und an dieser Stelle ist auch der Hinweis nötig, dass es im geographischen oder situativen Einzelfall auch spezielle Rechtslagen geben kann, die vom Recht der Ureinwohner sind, das im modernen Kanada eine Rolle spielt. Niemand wird hier eine Übersicht haben.    

Wer internationale Verträge abschließt, tut gut daran, sich mit dem Verhandlungspartner darauf zu einigen, welches Recht auf den Vertrag angewendet werden soll – was weitgehend frei vereinbar ist. Wenn man aber genau treffen will, sollte man nicht „Canadian law“ schreiben, sondern die Provinz bezeichnen, die betroffen ist. Damit erschlägt man auch föderales Recht, das in dieser Provinz gilt. Nur ein Schluss auf eine Provinz durch bloßes „Canadian Law“ wäre nicht eindeutig. Ähnliches gilt übrigens für die USA und für das Vereinigte Königreich, das ja auch mehr als ein Rechtsystem beherbergt.

Ein wesentlicher Unterschied zu unserem deutschen Rechtssystem ist die Funktion der Rechtswissenschaft. Wer bei uns in der Rechtsanwendung durch tieferes dogmatisches Verständnis Antwort auf offene Rechtsfragen sucht, wird nicht immer, aber vielfach fündig – oft durch ausführliche Kommentare von Fachleuten zu Gesetzeswerken. In Kanada ist das anders. Zwar gibt es zu Grundfragen Lehrbücher, manchmal im englischen Rechtskreis auch ausländischer Provenienz, aber Kommentarliteratur ist so gut wie unbekannt, und Rechtswissenschaftler prägen auch Gesetzgebung und Rechtsprechung weniger als bei uns. In meiner Praxis habe ich es öfters erlebt, dass solche Fragen offen blieben oder man sich die Antwort selbst geben musste.

Kanada ist ein gutes Beispiel der Koexistenz teils grundverschiedener Rechtssysteme. Im ökonomischen System kann das Reibungsverluste ergeben, aber sie werden in Kanada nicht grösser sein als im Rest der Welt. Messen kann das niemand. Und weltweit gilt im Umgang mit Recht, was überall gilt: wer genau hinsieht, ist im Vorteil.

Autor: Dr. Günter Knorr | Erfahren im kanadischen Recht
KNORR Rechtsanwälte AG
München und Ulm, Deutschland
E-Mail: guenter.knorr@kanadischesrecht.de

RA Dr. Günter Knorr

RA Dr. Günter Knorr